
Wittenberger Sau
Die "Wittenberger Sau" ist eine Schmähplastik, deren Entstehungsgeschichte in die Zeit zwischen 1290-1304 (1440?) fällt. Ihr Originalstandort ist wahrscheinlich, bis in das Jahr 1570, die Nordfassade der Wittenberger Stadtkirche St. Marien. Anschließend wurde sie, im Zuge eines Erweiterungsbaus, an die Stelle der südöstlichen Kirchenfassade verbracht, an der sie noch heute zu sehen ist.
Seit dem 10. Jahrhundert lebten Juden in Mitteldeutschland, zumeist in einträchtiger Koexistenz zum christlichen Glauben. Auch Wittenberg hatte bis in das Jahr 1304 ein Judenviertel. [1] Die Jüdenstraße, in direkter Nachbarschaft zur Stadtkirche St. Marien und dem Marktplatz, erinnert noch heute daran. Derartige Judenviertel waren durchaus nichts Ungewöhnliches und hatten erst einmal wenig mit Ausgrenzung, Ghettoisierung und Antisemitismus zu tun. Sie waren vielmehr Ausdruck gelebter jüdischer Religion, die sich zwar bis zu einem gewissen Grad abschottete, jedoch gesellschaftlich integriert war.
Ab dem 13. Jahrhundert kommt es verstärkt zu Unterschieden der theologischen Betrachtungsweisen. Sie führen zu einer gesellschaftlichen Teilung, in der vermehrt unterschieden wird, zwischen Christen (Getauften) und Nicht-Christen. Diese Differenzierung spiegelt sich unter anderem in einer besonderen Kleiderordnung wider, die von Menschen jüdischen Glaubens erwartet wird: das Tragen eines Judenhutes zum Beispiel, sollte die Nicht-Christen öffentlich erkennbar machen. Solche Kleiderordnungen waren von Land zu Land verschieden. [2]
In diese Zeit fällt der Begin der Geschichte der Wittenberger Sau. Sie beschäftigt und interessiert die Menschen bis heute.
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Um etwas Licht in die durchaus spannende Geschichte dieses Reliefs zu bringen, bedarf es einiger Vorüberlegungen.
Berufsverbote im Mittelalter
Mittelalterliche Zünfte in Mitteldeutschland verstanden sich in erster Linie als christliche Bruderschaften. Nicht-Christen, zu denen sowohl Juden als auch Slawen (sogenannte "Wenden") zählten, konnten Berufe der Zünfte demnach nicht ausüben. Sie wichen aus, auf für sie freie Berufe wie z.B.: Ärzte, Fleischer und besonders dem Beruf des Geldverleihers. Dieser Beruf war Christen durch das Zinsverbot nicht möglich auszuüben.
Ab dem Jahr 1236, nach dem bedeutendem 4.Laterankonzil, kam es zu Verfolgungen. Den Nutzen, den die jüdischen Geldverleiher dem Hochadel einbrachte, führte dazu, dass sie unter dem Schutz des Königs standen. [2]
Kirchenbauten im Mittelalter
Kirchenbauten im Mittelalter hatten einen wesentlich anderen Charakter als heutzutage. Damals waren sie Ausdruck der vorherrschenden römisch-katholischen Autorität und ihre gesamte Darstellung diente der Einschüchterung und der Gefügigmachung der Christen, boten ihnen aber auch gleichzeitig ein Heilsversprechen und Zuflucht. So lassen sich heute noch an ihnen symbolträchtige Schlusssteine an Gewölberippen, Konsolen an Säulen und Skulpturen an Fassaden finden, die, wenn man genau hinschaut abschrecken und drohen aber auch verheißen, zuraten und offerieren. Den Teufeln, Dämonen und anderen wilden Tierwesen steht Jesus, Gott und der Heilige Geist als Rettung gegenüber.
Mit diesem Hintergrundwissen lässt sich erahnen, wie eine Schmähplastik, wie die Wittenberger Sau, an die Fassade einer Kirche kommen konnte. Im Fall Wittenbergs, an die der Stadtkirche St. Marien.
Wittenberger Sau
Die Wittenberger Sau ist keineswegs einzigartig. Vielmehr ist sie eine von 44 Schmähplastiken die noch im deutschsprachigen Raum erhalten sind. Sie alle stammen aus dem Mittelalter und beschränken sich nicht auf das Material Stein. Es gibt sie als Wandbild, Schnitzereien und später auch als Druckerzeugnisse. [3]
An der südöstlichen Ecke der Stadtkirche St. Marien befindet sich in etwa 8 Meter Höhe der Chorfassade die Schmähplastik. Das Relief hat die Maße 150x80 cm. Es zeigt eine Sau und Personen im Körperkontakt mit ihr. Es stammt aus der Zeit um 1290-1304 (1440?). [4] Das Material ist ein grobkörniger sächsischer Sandstein. Möglicherweise aus einem Steinbruch des Liebenthaler Grundes bei Pirna. [5]
Die überdurchschnittlich hohe Qualität des Reliefs zeugt von einem Bildhauer, der sein Handwerk versteht. Sein Name ist nicht bekannt. Die Ausführung wird in die Nähe einer Naumburger Werkstatt gerückt, die vor 1260 auch die Skulpturen des Naumburger Doms fertigte.
Interpretation
Was für den modernen Betrachter wie plumpe Bildsprache wirkt, hat eine metaphorische Ebene, die für Menschen des Mittelalters sehr viel leichter erkennbar war. In der Wittenberger Sau geht es um die Auslegung der Bibel, die für Juden und Christen, mit der Tora und der Bibel und den 5 Büchern Mose des Alten Testaments, zunächst den gleichen Ursprung haben.
Die Interpretation, bzw. die theologische Betrachtungsweise des Geschrieben führt jedoch zu erheblichen Unterschieden: für Christen ist Jesus bereits auf Erden, die Juden lesen die Anwesenheit von Jesus nicht aus der Bibel heraus, sondern warten noch auf ihn, als den prophezeiten Messias.
Wenn Jesus noch nicht auf Erden ist, ist das gleichbedeutend mit seiner Verleugnung. Sowohl im tiefgläubigen Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit bedeutete das unentschuldbare Blasphemie und Gotteslästerung.
Was wir sehen
Zu sehen sind 2 Männer, die an den Zitzen einer Sau saugen, eine weitere Person drängt ein Ferkel ab, das zu der Sau strebt. Eine vierte Person sitzt hinter dem Tier und schaut ihm in den Hintern. Alle Personen sind eindeutig durch den Judenhut als Nicht-Gläubige zu erkennen. Der Blick in den Hintern der Sau ist Polemik und erklärt die Gottelästerei der Beteiligten: sie sehen nicht, dass Jesus bereits auf Erden weilt, sondern suchen den Messias hier, an einer denkbar ungünstigen Stelle.
Die Wittenberger Sau ist eine Plastik, die durchaus für Empörung sorgen kann, im historischen Kontext betrachtet, jedoch weit weniger Anlass dazu bietet: die 4 Personen zeigen in erster Linie "Nicht-Christen" und erst dann Menschen jüdischen Glaubens. Die Darstellung hätte ebenso Slawen zeigen können (die nachweislich um 1180 das sächsische Gebiet besiedelten), wenn diese im 13. Jahrhundert nicht schon längst zum christlichen Glauben bekehrt worden wären. Heiden gab es in der Region um Wittenberg jedenfalls so gut wie keine mehr. [6]
Originalstandort 1290-1304
Neben dieser gezielt blasphemischen Darstellung enthält die Wittenberger Sau hauptsächlich die eindringliche Warnung an alle Christen, nicht vom rechten Glauben abzufallen, denn In diesem ungeheuerlichen Fall lauert der Teufel, das Fegefeuer und die ewige Verdammnis. [7]
Ihre besondere Wirkung entfaltet das Relief aber erst an ihrem Originalstandort, der wahrscheinlich an der Nordfassade der Stadtkirche St. Marien gelegen war. An dieser Stelle befand sich der damals von Christen stark frequentierte Friedhof. Abgegrenzt wurde er durch einen Zaun, ähnlich, wie er auf dem Kupferstich von 1760 von Christian Gottlieb Gilling zu sehen ist. Der Zutritt war ausschließlich Getauften vorbehalten, Nicht-Gläubige, zu denen Juden zählten, hatten keinen Zutritt. [8]
Dieser Umstand führt dazu, in Fachkreisen weniger von einer Schmähplastik zu sprechen und mehr von einem Warnhinweis. Nach Ansicht der Geschichtskundigen, war die Plastik wesentlich weniger von Menschen jüdischen Glaubens wahrzunehmen, so dass sich die verbreitete Ansicht, die Wittenberger Sau wäre eine reine Schmähplastik, relativiert.
Verlegung 1569-1570
Der Umbau samt Erhöhung der Sakristei in den Jahren 1569-1570 führte zu einer Verlegung der Plastik an die Südseite der Stadtkirche. [8] Mit diesem Standortwechsel vollzog sich gleichzeitig eine Neuinterpretation, die bis heute nachwirkt und sich auf Martin Luther bezieht.
**!** Der Absatz über den Standort des Reliefs enthält noch relativ wenig Informationen. Vielleicht wissen Sie mehr darüber. Erstellen Sie hier Ihr kostenloses Benutzerkonto und teilen Sie Ihr Wissen mit Anderen! |
Schwein bzw. Sau
Das Schwein bzw. die Sau eignet sich als Schmähung, denn es unterliegt einem Nahrungstabu im jüdischen und muslimischen Glauben. Das Speisverbot lässt sich im Buch Mose nachlesen.
3. Mose 11 4-8:
4 Nur diese dürft ihr nicht essen von dem, was wiederkäut oder gespaltene Klauen hat: das Kamel, denn es ist zwar ein Wiederkäuer, hat aber keine durchgespaltenen Klauen, darum soll es euch unrein sein; 5 den Klippdachs, denn er ist zwar ein Wiederkäuer, hat aber keine durchgespaltenen Klauen; darum soll er euch unrein sein; 6 den Hasen, denn er ist auch ein Wiederkäuer, hat aber keine durchgespaltenen Klauen; darum soll er euch unrein sein; 7 das Schwein, denn es hat wohl durchgespaltene Klauen, ist aber kein Wiederkäuer; darum soll es euch unrein sein. 8 Von ihrem Fleisch dürft ihr weder essen noch ihr Aas anrühren; denn sie sind euch unrein.
Die Schrift über der eigentlichen Plastik lautet: "Rabini SchemHaMphoras". Sie bezieht sich auf die Auslegung von 2. Mose 14, 19-21 durch jüdische Kabbalisten, in der es unteranderem heißt:
"Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken und die Wasser teilten sich." [...]
Jeder dieser Verse hat 72 hebräische Buchstaben, die von Kabbalisten in drei Zeilen untereinander geschrieben wurden und anschließend aus den untereinander stehenden Buchstaben 72 Engelsnamen mit 72 Aussagen über Gott 72 Psalmverse zugeordnet wurden. [9]
Aus dem Ergebnis wurde der Name Gottes abgeleitet, der damals unter den Rabbinern als Zauberformel gilt.
Wittenberger Sau im 20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert steht im Zeichen der Zuspitzung der mittelalterlichen Interpretation. Die schändlichen Taten dieses Jahrhunderts haben den Kern und den historischen Kontext bis in die heutige Zeit hinein geschadet und völlig verzerrt. Die 30 in Deutschland erhalten gebliebenen Schmähplastiken geben, verständlicherweise, bis heute immer wieder Anlass zu Streitigkeiten.
1988 wird das Mahnmal "Quetschung" unterhalb der Wittenberger Sau installiert. Der Bildhauer ist Wieland Schmiedel. Die vom Schriftsteller Jürgen Rennert verfasste Umschrift lautet:
Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.
Die "Stätte der Mahnung" erhält zusätzlich im Jahr 1990 eine Blauzeder, bzw. Atlaszeder.
In Bearbeitung ...
Dies und Das
- Wie viele Menschen jüdischen Glaubens im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Wittenberg tatsächlich lebten, ist bisher kaum erforscht und kann derzeit nicht beziffert werden. [8]
Anmerkungen
Belege
- ↑ Die Wittenberger Sau, S.18
- ↑ 2,0 2,1 Die Wittenberger Sau, S.27
- ↑ Judensau
- ↑ "Judensau"-Relief an der Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg
- ↑ Die Wittenberger Sau, S.26
- ↑ Die Wittenberger Sau, S.28
- ↑ Die Wittenberger Sau, S.26
- ↑ 8,0 8,1 8,2 Die Wittenberger Sau, S.70-S.72
- ↑ Wittenberg als Lutherstadt, Abbildung 10